Erinnern für die Zukunft: Das sog. Durchgangslager Strasshof
Eine Gräberanlage auf dem örtlichen Friedhof und überwachsene Mauerreste – mehr erinnerte lange Zeit nicht an das sog. „Durchgangslager Strasshof“.Auch in der wissenschaftlichen Aufarbeitung der NS-Geschichte wurde das Lager lange Zeit nur nebenbei erwähnt. Das änderte sich erst in den 70er Jahren, zunächst in der ungarischen Forschung, dann mit Zeitverzögerung auch in Österreich.
Nur wenige wissen, dass Strasshof an der Nordbahn während der NS-Zeit die achtgrößte Bahnanlage im Deutschen Reich war. Der Großverschiebebahnhof hatte eine Kapazität von 4.400 Wagen in 24 Stunden. Die Bedeutung Strasshofs als Verschiebebahnhof hatte allerdings bereits schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts begonnen. Nach der Verstaatlichung der Kaiser-Ferdinands-Nordbahn entstand ab 1908 zwischen Deutsch Wagram und Gänserndorf auf Acker- und Waldflächen, die zu Bockfließ und Straßerfeld gehörten, ein großer Rangierbahnhof, der den Wiener Nordbahnhof entlasten sollte. Am 19. Oktober 1908 waren die Anlagen fertiggestellt, nachdem man bereits am 5. August die Haltestelle „Strasshof“ eröffnet hatte. Rund um die Anlage wurden die für den Betrieb notwendigen Gebäude errichtet, inklusive zweier Wohnhäuser für die Bediensteten, deren Zahl binnen weniger Monaten auf 80 angewachsen war. Bis heute erinnert die Erweiterung der Ortsbezeichnung – „an der Nordbahn“ – an den Grund für das Entstehen dieser zunächst kleinen Siedlung, die seit 2024 die jüngste Stadtgemeinde Niederösterreichs ist.
Während der Monarchie rollte hier der Güterverkehr aus dem mährisch-schlesischen Raum; er brachte Kohle und Eisen nach Wien und weiter in die Länder der Monarchie. Während des Zweiten Weltkrieges plante die deutsche Reichsbahn eine Wiederbelebung des teilweise stillgelegten Rangierbahnhofes und den Ausbau zu einem Großverschiebebahnhof. Weiters wurde mit dem Bau eines großen Heizhauses im Ortsteil Silberwald begonnen (heute Eisenbahnmuseum „Heizhaus Strasshof“). Anschlussbahnen führten zum Fliegerhorst Deutsch-Wagram und zum „Durchgangslager Strasshof“.
Als sich die Lage im Angriffskrieg gegen Russland immer weiter verschlechterte und der erhoffte rasche Sieg in weite Ferne gerückt war, entschloss sich die nationalsozialistische Führung zum verstärkten Einsatz von Zwangsarbeiter:innen aus den besetzten Staaten Europas. So sollte das Vakuum, das durch die Kriegsverpflichtungen entstanden war, durch neue Arbeitskräfte gefüllt werden. Zur Organisation der „Arbeitseinsatzverwaltung“ wurden auf dem Gebiet des Deutschen Reiches zunächst 22 sog. Durchgangslager (DL oder Dulag) errichtet, eines davon in Strasshof. Für die Wahl des Platzes waren mehrere Voraussetzungen entscheidend: eine gute verkehrstechnische Lage möglichst mit direktem Gleisanschluss, die Nähe zu größeren Ortschaften, die notwendige Bodenbeschaffenheit für die Errichtung der Baracken und, nicht zuletzt, eine ausreichende Wasserversorgung. All dies war in Strasshof gegeben.
Strasshof wurde zu einem „Vorzeigeprojekt“, wie Franz Puntigam in seinem Beitrag in der Zeitschrift „Gesundheits-Ingenieur“ 1944 darlegte. Der dem Beitrag eingefügten Pläne des Dulag Strasshof zeigen u.a. den Grundriss der Anlage, bestehend aus der sog. „unreinen Lagerseite“, der Entlausungsanlage, der sog. „reinen Lagerseite“, der Krankenabteilung sowie dem Wirtschafts- und Verwaltungsteil, der auch die Personalunterkünfte umfasste. Die Baracken der „unreinen Lagerseite“ dienten der Aufnahme der Zwangsarbeiter:innen nach Verlassen der Transportzüge. Erst nach dem Aufenthalt in der Entlausungsanlage durften die Deportierten die Baracken der „reinen Lagerseite“ betreten. Die meisten wurden in der Folge dann zu verschiedenen Einsatzorten in Niederdonau gebracht, um dort in der Rüstungsindustrie oder in der Landwirtschaft zu arbeiten. Das Lager in Strasshof war laut Puntigam für 6.000 Personen ausgelegt. Da die Durchgangslager rasch errichtet werden mussten, verwendete man dafür für den Reichsarbeitsdienst vorgefertigte Baracken. Verwendung fanden die Mannschafts-. Wasch-, Abort-, Wirtschafts- und Verwaltungsbaracken. Die Beschaffenheit dieser Baracken kennen wir aus der Beschreibung bei Puntigam: „Die Mannschaftsbaracken sind 19,95 m lang und 8,14 m breit. Die 7,5 cm dicken Außenwände bestehen aus einer doppelten Bretterlage mit einem Luftraum und einer Lage Dachpappe zum Wärmeschutz dazwischen. […] Der Barackenboden besteht aus einer doppelten Lage Bretter. […] Jede Baracke umfasst 3 Stuben. Je Stube werden (entgegen ärztlichem Rat) 32 Menschen untergebracht. […] In den Stuben sind Holzpritschen übereinander (doppelgeschossig) aufgestellt. Die Pritschen sind 195 cm lang, 70 cm breit und 67 cm hoch. […] Zu je zwei Mannschaftsbaracken gehört ein Aborthaus.“
Ab 1942 brachten Züge aus Frankreich, Belgien, Griechenland, Jugoslawien, aus der Ukraine, Polen und Russland tausende Zwangsverpflichtete nach Strasshof. Seit Mai 1944 rollten durch Strasshof auch Transportzüge mit Jüdinnen und Juden aus Ungarn. Ziele waren die Konzentrationslager in Auschwitz-Birkenau, Theresienstadt oder Bergen-Belsen. Mit der Besetzung Ungarns durch die Nationalsozialisten am 19. März 1944 hatte auch in Ungarn die Aktion zur „Endlösung der Judenfrage“ begonnen. Die Zustände in den Güterwaggons waren katastrophal. Die Menschen mussten tagelang ohne Nahrung und Wasser in ihnen verharren. Viele starben bereits während des Transports. In Gmünd erinnert ein Mahnmal an solche Opfer: Am 22. Dezember 1944 erreichte ein Güterzug auf dem Weg zu einem der Vernichtungslager den Bahnhof Gmünd. Von hier gab es zunächst kein Weiterkommen. Daher wurden die rund 1.700 ungarischen Jüdinnen und Juden provisorisch im sog. Getreidespeicher untergebracht. Während der Wintermonate starben hier 485 (oder 512) Deportierte. Das weitere Schicksal der Überlebenden ist unbekannt.
Der enorme Mangel an Arbeitskräfte führte dazu, dass die Gauarbeitsämter Wien und Niederdonau ab Mai 1944 arbeitsfähige Jüdinnen und Juden als Zwangsarbeiter:innen für die Rüstungsindustrie, die Landwirtschaft und ab November 1944 zum Bau des Südostwalls anforderten. Die Züge mit den ungarischen Deportierten wurden nun in Gänserndorf angehalten; Arbeitsfähige wurden „aussortiert“ und zur Zwangsarbeit „selektiert“. Sie wurden in das Dulag Strasshof gebracht und von dort zu ihren zukünftigen Arbeitsplätzen. Direkt vor Ort wurden für den Ausbau des Militärflugplatzes Strasshof rund 240 ungarische Zwangsarbeiter:innen eingesetzt, die in einem separaten Lager der bayerischen Firma Sager & Woerner interniert waren.
In Interviews und autobiographischen Schrifttum berichteten Opfer über die menschenverachtenden Zustände während der Transporte und in dem überfüllten Lager:
So wurden wir in einen langen Zug aus Güterwagen verladen. Wir waren rund achtzig Menschen in einem Güterwagen. Die Türen wurden geschlossen und der Zug fuhr an. Wir wussten freilich nicht, wohin wir gefahren wurden, und der Zug stand mehr als er fuhr. Bei verschiedenen Gelegenheiten wurden die Türen geöffnet und wir bekamen zu essen; ich weiß nicht mehr was. Einmal teilten wir uns ein paar Äpfel. Durch das Fenster, das manchmal geöffnet wurde, konnten die Erwachsenen die Bahnhofnamen auf den Schildern sehen. Nach drei, vier Tagen hielt der Zug an einem Bahnhof, Strasshof. Es zeigte sich, das wir in Österreich waren, in der Nähe von Wien. (Jovan Rajs, geb. 1933)
So viele Tage in geschlossenen Viehwaggons hielten nicht alle aus. Viele starben, aber keiner in unserem Waggon. Die Toten schmissen sie auf einen Lastwagen, einen auf den anderen. […] Anschließend brachten sie uns nach Strasshof in der Nähe von Wien. Dort war neben dem Zuggleis ein großes Tor mit einer Wache. Sie trieben die Leute zusammen. Jeder musste seine Kleider abgeben, sodass wir splitternackt dort standen. Ukrainische Männer schlugen mit ihren Peitschen auf uns unglückselige Juden ein. (Helena Schwarcz-Horovitz, geb. 1905)
Weil die Deutschen so exakt sind, haben sie von jedem eine Röntgenaufnahme gemacht, um auszuschließen, dass jemand Tuberkulose hat. Uns hat man ganz nackt ausgezogen und die Kleider desinfiziert. Man hat uns nackt in einer Reihe aufgestellt und uns untersucht. Nach dem Röntgen haben wir unsere Kleider bekommen und sind in die Baracken gegangen, dort haben wir auf Brettern geschlafen. (Vilma Dorsner, geb. 1909)
Kranke, Arbeitsunfähige, Kinder und Säuglinge wurden nicht versorgt, man ließ sie sterben.
Zu einem Arbeitseinsatz verpflichtet zu werden, bedeutete zumindest eine kleine Chance zu überleben und zumindest vorerst dem Transport in ein Vernichtungslager zu entkommen:
In Strasshof haben wir nicht gearbeitet, das war nur ein Sammellager, von dort hat man uns zur Arbeit geschickt. Eine Gruppe von 31 Personen hat man nach Großharras, das war ein großes Gut, geschickt. Dort haben wir schwere Feldarbeit verrichtet, aber wir haben Essen und einen Schlafplatz bekommen. Leider war dort nach drei oder vier Wochen die Arbeit fertig. Dann hat uns ein Gestapo-Mann namens Weiss gekauft, alle 31. Dann kamen wir in ein kleines Dorf namens Altlichtenwarth, dort hat man uns in einen Kuhstall eingesperrt und wir schliefen auf einem Zementboden, der ein bisschen mit Stroh bedeckt war. Pro Person hatten wir 50 Zentimeter zur Verfügung. Wenn sich jemand umdrehen wollte, musste er alle anderen aufwecken, weil sich dann alle umdrehen mussten. Es war sehr unangenehm. Der Bürgermeister hatte den Schlüssel. In der Früh sind die Bäuerinnen gekommen und haben uns ausgesucht.
Für viele währte der Aufenthalt in Strasshof nur wenige Tage, war eine Zwischenstation auf dem Transport zu anderen Zwangsarbeitsplätzen oder in ein Konzentrationslager. So wurden Ende November/Anfang Dezember 1944 mehr als 2.200 ungarische Jüdinnen und Juden von hier nach Bergen-Belsen verfrachtet. Als die Front näher rückte, begann man im März 1945 mit der „Evakuierung“ des Dulag Strasshof Richtung Theresienstadt. So wollte man verhindern, dass die Internierten von Truppen der sowjetischen Armee befreit wurden. Der erste Transport mit 1.072 Personen traf am 8. März 1945 in Theresienstadt ein. Zwei Wochen später wurden wiederum 2.500 ungarische Jüdinnen und Juden verladen. Allerdings konnte der Zug nicht sofort abfahren, da die Gleisanlagen auf der Bahnstrecke nach Theresienstadt beschädigt waren. Ohne Nahrung und Wasser mussten die Deportierten tagelang in den Waggons ausharren. Schließlich kam es zur Katastrophe: Am 26. März 1945 bombardierten die US-Streitkräfte den Bahnhof und die Gleisanlagen. Ein Munitionstransport explodierte. 64 Menschen starben. Die Überlebenden wurden wieder in das Lager zurückgebracht. Am 10. April 1945 eroberten Truppen der Roten Armee Strasshof und befreiten die Insassen des Lagers, darunter mehr als 3.000 inhaftierte ungarische Jüdinnen und Juden. Der für den Transport der ungarischen Jüdinnen und Juden aus dem Ghetto Debrecen nach Strasshof verantwortliche Siegfried Seidl, der ab 1944 stellvertretender Leiter des SS-Sondereinsatzkommandos Außenstelle Wien war, wurde verhaftet. Ihm wurde der Prozess gemacht. Am 3. Oktober 1946 zum Tode verurteilt, fand seine Hinrichtung am 4. Februar 1947 statt.
Nach der Befreiung des Lagers erfolgte keine geordnete Auflösung. Daher gibt es kaum Nachrichten über die Zwangsarbeiter:innen anderer Nationalitäten, die seit 1942 durch das Dulag Strasshof geschleust worden waren, weder Berichte über deren Herkunft, zu den Einsatzorten oder genaue Zahlen. Der Zustand der Baracken war im April 1945 so schlecht, dass nicht einmal die Besatzungstruppen Interesse an einer weiteren Nutzung hatten. Sie wurden vermutlich begehrtes Bau- und Brennholz für die Bevölkerung. In Österreich geriet das Lager in Vergessenheit, das Wissen um seine Existenz wurde verdrängt. Erst 2009 begann eine Initiative in Strasshof mit der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit und der Geschichte des Lagers. 2011 wurde im „Niemandsland“ zwischen Industriebrachen und Bahngleisen in der Nähe des ehemaligen Lagers eine Gedenkstätte errichtet. Das Erinnerungsmal wurde vom Künstler Karl Heinz Schreiner gemeinsam mit Mitgliedern der Arbeitsgruppe Strasshof entworfen und gebaut: im Zentrum eine aus Mosaiksteinen und Fliesenscherben gebildete Blume, die von einem Schienenstrang brutal durchschnitten wird. Rund um die Blume verläuft ein Zitat aus dem Chor der Geretteten von Nelly Sachs: „Wir Geretteten bitten Euch: Zeigt uns langsam eure Sonne. Führt uns von Stern zu Stern im Schritt. Lasst uns das Leben leise wieder lernen“. Sieben unterschiedlich hohe Betonpfeiler, von Stacheldraht bekrönt symbolisieren die Lagermauern.
Autorin: Prof. Dr. Elisabeth Vavra
Verwendete und weiterführende Literatur:
Eleonore Lappin-Eppel, Susanne Uslu-Pauer und Manfred Wieninger, Ungarisch-Jüdische Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter in Niederösterreich 1944/45 (Studien und Forschungen aus dem Niederösterreichischen Institut für Landeskunde 45), St. Pölten 2006.
Eleonore Lappin-Eppel, Ungarisch-Jüdische Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen in Österreich 1944/45. Arbeitseinsatz – Todesmärsche – Folgen, Wien 2010.
Eleonore Lappin-Eppel, Erinnerungszeichen an die Opfer des Zwangsarbeitseinsatzes ungarischer Juden und Jüdinnen in Niederösterreich 1944/45, in: Heinz Arnberger – Claudia Kuretsidis-Haider (Hgg.), Gedenken und Mahnen in Niederösterreich, 2. Aufl., Wien 2011, S. 60–86.
Franz Puntigam, Die Durchgangslager der Arbeitseinsatzverwaltung als Einrichtungen der Gesundheitsvorsorge, in: Gesundheits-Ingenieur 67 (München 1944), S. 47–56.
Helena Schvarcz-Horovitz, Ein Hering für zwei Zigaretten. Erinnerungen einer Holocaust-Überlebenden an die Deportation der ungarischen Juden nach Strasshof, an die Arbeitslager in Wien und die Todesmärsche durch Österreich, Konstanz 2006.
Irene Suchy, Strasshof an der Nordbahn. Die NS-Geschichte eines Ortes und ihre Aufarbeitung, Wien 2012, S. 41 (Zitat Jovan Rajs), S. 46 (Zitat Vilma Dorsner), S. 50f (Zitat Vilma Dorsner),
Szabolcs Szita, Zwangsarbeit, Todesmärsche, Überleben durch Hilfe. Die österreichische Bevölkerung in der Erinnerung der ungarischen Deportierten und politischen Häftlinge 1944–1945, Budapest 2004
Links:
https://www.vas-strasshof.at/